Die Übertragungsnetzbetreiber haben die Netzentgelte für 2024 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Stephan Morgenschweis, Leiter Customer Management, und Marco Stoltefuß, Leiter Regulierungsmanagement, über die Gründe – und wie es für die Amprion-Kunden weitergeht.

Die deutliche Erhöhung der Netzentgelte für 2024 war in den vergangenen Wochen eines der großen Themen in der energiepolitischen Debatte. Wie werden sie berechnet?

Stephan Morgenschweis: Netzentgelte sind Gebühren für die Nutzung des Netzes, die Stromkunden an die Netzbetreiber zahlen. Ihre Höhe ergibt sich auf Basis der sogenannten Erlösobergrenzen, die die Regulierungsbehörde – in unserem Fall die Bundesnetzagentur – auf Basis der voraussichtlichen Netzkosten für die Netzbetreiber festlegt. Diese Kosten werden dann geteilt durch die voraussichtlichen Absatzmengen im Bezugsjahr. Sehr vereinfacht formuliert: Netzentgelte ergeben sich aus Netzkosten geteilt durch erwartete Stromabsatzmenge des Übertragungsnetzes. Für 2024 liegen sie bei ca. 6,4 Cent pro Kilowattstunde.

Um welche Kosten geht es?

Marco Stoltefuß: Die größten Positionen machen neben den Kapitalkosten derzeit im Wesentlichen die Kosten für Systemdienstleistungen und insbesondere für das Engpassmanagement aus. Kapitalkosten sind vor allem die Kosten für die Finanzierung des Netzausbaus. Die Investitionen in den Netzausbau steigen seit Jahren. Deshalb nehmen auch die Kapitalkosten zu.

Morgenschweis: Die Kosten für das Engpassmanagement werden unter anderem durch die Kosten für den sogenannten Redispatch getrieben. Dabei greift unsere Systemführung in die Einsatzpläne von Erzeugungsanlagen ein, um Stromleitungen nicht zu überlasten. Ein Kraftwerk A, das vor einem potenziellen Engpass im Netz liegt, speist dann außerplanmäßig weniger Strom ein. Ein Kraftwerk B dahinter wird außerplanmäßig hochgefahren. Wir als Übertragungsnetzbetreiber bezahlen die Kraftwerke A und B dafür. Die Höhe der Vergütung ist gesetzlich geregelt und richtet sich nach dem Strompreis. Wieviel Redispatch nötig ist, hängt von der jeweiligen Transportsituation und dem Zustand des Netzes ab.

Je besser das Netz ausgebaut ist, desto weniger Redispatch – und desto niedriger sind die Kosten hierfür in den Netzentgelten.
Stephan Morgenschweis, Leiter Customer Management bei Amprion
Portrait von Stephan Morgenschweis, Leiter Customer Management bei Amprion

Warum haben sich die Netzentgelte für 2024 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt?

Stoltefuß: Wir bewegen uns da in einem langfristigen Trend: Die Netzentgelte haben sich in den vergangenen zehn Jahren versechsfacht. Sicherlich spielt der Anstieg der Kapitalkosten eine Rolle. Maßgeblich aber war, dass durch den russischen Angriff auf die Ukraine der Strompreis und damit die Kosten für Redispatch und andere Systemdienstleistungen gestiegen sind, die wir zur Netzstabilisierung benötigen. Teilweise bewegte sich der Strompreis in astronomischen Höhen. Inzwischen hat sich die Lage an den Strommärkten etwas beruhigt, der Strompreis ist aber immer noch auf einem relativ hohen Niveau. Insbesondere durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien hat die Systemführung zudem mit immer mehr Netzengpässen zu tun. Die Bundesregierung hatte den kriegsbedingten Anstieg der Netzentgelte für 2023 durch einen Bundeszuschuss abgemildert. Einen solchen Zuschuss sollte es auch für 2024 geben – immerhin 5,5 Milliarden Euro. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimatransformationsfonds hat die Bundesregierung diesen Zuschuss Ende 2023 kurzfristig gestrichen. Die Übertragungsnetzbetreiber konnten dann nicht anders und haben die Netzentgelte ohne Bundeszuschuss kalkuliert.

Wie haben die Amprion-Kunden die Erhöhung aufgenommen?

Morgenschweis: Wir hatten die Unternehmen bereits im Herbst 2023 über die allgemeine Entwicklung der Netzentgelte informiert und dann im Dezember kurzfristig über die Folgen der Regierungsentscheidung. Im Januar 2024 haben wir sie zu einem weiteren „NetzDialog“ zum Thema eingeladen. Unsere Bemühungen, die Netzentgelte stabil zu halten, erkennen die Kunden an. Insgesamt ist die Ernüchterung groß. Vor allem die stromintensive Industrie – Stahl, Aluminium, Chemie – klagt ja schon lange über hohe Stromkosten. Sie reagiert und drosselt die Produktionen. Wir sehen das an der Menge des transportierten Stroms. In unserem Netzgebiet haben wir von 2022 auf 2023 einen Rückgang um sieben Prozent verzeichnet. Das entspricht dem Jahresstrombedarf von BASF am Standort Ludwigshafen und einem großen Aluminium-Werk zusammen. Die direkt bei uns im Übertragungsnetz angeschlossene Industrie hat im vergangenen Jahr 17 Prozent weniger Strom verbraucht als 2022. Ich fürchte, diese Entwicklungen werden sich durch die hohen Netzentgelte fortsetzen.

Wo genau liegt das Problem?

Morgenschweis: Die Industrie benötigt einen wettbewerbsfähigen Gesamtstrompreis – also Strompreis plus Netzentgelte. Dieser sollte aus Sicht der Industrieverbände idealerweise nicht auf mehr als sechs Cent pro Kilowattstunde steigen. In diesem Jahr liegen die Netzentgelte allein schon über dieser Schmerzgrenze. Die Sorge ist jetzt groß, dass wir in Deutschland lange auf einem hohen Niveau verharren. Und die Kunden wollen wissen, was Amprion tun kann, um die Netzentgelte zu senken.

Worauf müssen sich die Amprion-Kunden einstellen?

Stoltefuß: Zunächst die schlechten Nachrichten für die Kunden: Die Kapitalkosten werden steigen, da der Netzausbau gerade erst richtig Fahrt aufnimmt. Und: Der Strompreis ist zwar rückläufig, aber wird sich mittelfristig weiterhin auf einem hohen Niveau bewegen. Die guten Nachrichten: Längerfristig kann sich die Lage im Wesentlichen durch zwei Entwicklungen entspannen. 1. Je mehr Strom aus Wind und Sonne erzeugt wird, desto günstiger wird er. Und damit könnten auch die Beschaffungskosten für das Engpassmanagement sinken. 2. Je besser das Netz ausgebaut ist, desto weniger Bedarf gibt es für Redispatch und weiteres Engpassmanagement.

Auch wenn der Netzausbau die Kapitalkosten erhöht – der Einspareffekt bei den Kosten fürs Engpassmanagement ist deutlich größer.
Marco Stoltefuß, Leiter Regulierungsmanagement bei Amprion

Morgenschweis: Wenn Amprion also etwas für seine Kunden tun kann, ist es, Tempo zu machen beim Netzausbau! Wie groß der Hebel ist, zeigt das Beispiel A-Nord: Durch die Inbetriebnahme dieses Nord-Süd-Korridors 2027 könnten die Kosten für das Engpassmanagement voraussichtlich um bis zu 700 Millionen Euro pro Jahr sinken. So einen Hebel hat Amprion durch kein anderes Sparprogramm.

Was wäre politisch möglich?

Stoltefuß: Amprion wirbt im Gespräch mit der Bundesregierung dafür, insbesondere die Kosten für das Engpassmanagement aus den Netzentgelten herauszulösen. Aus unserer Sicht sind das Kosten, die durch die politisch und gesellschaftlich gewollte Transformation des Energiesystems entstehen – und deshalb etwa aus dem Bundeshaushalt zu begleichen wären. Das würde Industrie, Gewerbe und private Verbraucher*innen deutlich entlasten.

Morgenschweis: Unsere Kunden haben an diesem Ansatz großes Interesse. Auch unsere Geschäftsführung wird sich dafür in diesem Jahr verstärkt einsetzen. Ich hoffe, dass dies in der Politik in Zeiten einer angespannten Haushaltslage auf offene Ohren trifft.