Das Bild zeigt Herrn Joachim Vanzetta, Leiter der Systemführung bei Amprion.

Systemführung

„Die Lage war besorgniserregend“

Joachim Vanzetta, Leiter Systemführung bei Amprion, über drei Tage im Juni 2019, an denen das deutsche Stromnetz die Balance zu verlieren drohte.


Herr Vanzetta, im Juni dieses Jahres ist es an drei Tagen zu erheblichen Ungleichgewichten im deutschen Stromsystem gekommen. Wie ernst war die Lage?

„Die Lage war schon besorgniserregend. Als Systemführung ist es unsere Aufgabe, Stromerzeugung und -verbrauch im Netz in jedem Moment im Gleichgewicht zu halten. Dann haben wir ein stabiles Stromnetz mit einer Frequenz von 50 Hertz. An den drei Tagen im Juni wichen Erzeugung und Verbrauch so stark voneinander ab, wie ich es seit Jahren nicht beobachtet habe – und dadurch kam es zu außergewöhnlich hohen Abweichungen von der Sollfrequenz. Um das Netz zu stabilisieren, mussten wir in der Systemführung alle Möglichkeiten ausschöpfen: Wir haben die verfügbare Regelenergie vollständig eingesetzt, Großverbraucher wie Aluminiumwerke zeitweise vom Netz genommen. Außerdem haben wir Reservekraftwerke zugeschaltet und am Intraday-Markt Energie dazugekauft – und dennoch hatten wir am Ende immer noch erhebliche Ungleichgewichte. Nur durch zusätzliche Hilfe aus dem Ausland haben wir sie ausgleichen können. Ich kann mich an keine vergleichbare Situation in den vergangenen Jahren erinnern.“

Das Bild zeigt Herrn Joachim Vanzetta. Vanzetta trägt einen dunklen Anzug und steht an ein Geländer gelehnt in einem Backsteingebäude.

Joachim Vanzetta, Leiter Systemführung bei Amprion

Was ist schief gelaufen?

„Physikalisch gesehen ist es sehr einfach: Die ins Netz eingespeiste Strommenge war niedriger als die Menge, die entnommen worden ist. Warum es zu diesem Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch kam, untersuchen wir gerade. Es sind dafür sehr viele Daten auszuwerten – und das braucht Zeit. Wir haben Hinweise darauf, dass die Abweichungen unter anderem mit fehlerhaften Prognosen für Stromerzeugung und Stromverbrauch zusammenhingen.“

Was genau ist geschehen?

„Nehmen wir die Situation an den ersten beiden Tagen, dem 6. und dem 12. Juni: Wir arbeiten unter anderem mit Prognosen, die auf Basis von Wetterdaten abschätzen, wie viel Windstrom am Folgetag erzeugt wird und deshalb dann an der Strombörse gehandelt werden kann. Stromkäufer verlassen sich darauf, dass an diesem Tag eine bestimmte Strommenge zur Verfügung steht. An den genannten Tagen hatten wir über Deutschland aber eine sehr wechselhafte Wetterlage mit starken Winden, die plötzlich abflauten. Das hat Prognosen extrem erschwert. Deshalb stand dem System auf einmal weniger Strom zur Verfügung, als gebraucht wurde.“

Was passierte am dritten Tag, dem 25. Juni?

„Es war extrem heiß – selbst abends hatten wir im Rheinland noch mehr als 35 Grad im Schatten. Wir vermuten, dass an diesem Tag unerwartet viele Menschen Klimaanlagen und Kühlgeräte angeschaltet haben – und so sehr viel mehr Strom aus dem Netz entnommen worden ist, als prognostiziert worden war. Die Folge war auch hier ein Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Verbrauch. Normalerweise sollten wir in der Lage sein, das mit der uns zur Verfügung stehenden Regelleistung auszugleichen. Die Abweichungen waren aber viel zu groß: In der Spitze fehlten uns bis zu 8.000 Megawatt Leistung, während wir an Regelleistung nur etwa 3.000 Megawatt vorgehalten hatten. Es gibt Indizien, dass es zusätzlich im Stromhandel an diesen Tagen zu sogenannten Arbitragegeschäften kam. Vereinfacht gesagt, wurde nicht der Strom geliefert, der verkauft worden war und den wir zur Systemstabilisierung eingeplant hatten. Diese Effekte haben sich vermutlich überlagert.“

Welche Schlüsse ziehen Sie aus Ihren ersten Analysen der Juni-Situation?

„Abgesehen von Maßnahmen, die den Stromhandel betreffen, werden wir weitere Anstrengungen unternehmen müssen, unsere Wind- und Solarprognosen zu verbessern. Aber das hat Grenzen. Wetterprognosen haben eine gewisse Unschärfe – damit müssen wir leben. Dies wird umso mehr zur Herausforderung, je mehr wir erneuerbare Energien zur Stromerzeugung nutzen. Das ist die strukturelle Dimension des Themas. Daher müssen wir uns grundsätzlich gegen die zeitweise hohen Volatilitäten bei erneuerbaren Energien besser wappnen. Dazu dienen der Netzausbau, innovative Speichertechnologien wie Power-to-Gas – und verlässlich verfügbare Energieträger als zuverlässig verfügbare Reserve. Wir brauchen deren gesicherte Leistung. Eine große Herausforderung sehe ich daher im nun gleichzeitig stattfindenden Ausstieg aus der Kernenergie und der Kohleverstromung.“

Kann sich die Juni-Situation wiederholen?

„Ja, ich denke schon, dass sich solche Situationen in Zukunft häufiger wiederholen können, weil das gesamte System vor allem durch die zunehmende Einspeisung erneuerbarer Energien anfälliger für Frequenzabweichungen wird. Als erste Maßnahme haben wir bereits zu Ende Juni unsere Beschaffungsstrategie für Regelenergie angepasst, wir schreiben nunmehr etwa 4.000 Megawatt an Sekundärregelleistung und Minutenreserve aus. Verstehen Sie mich richtig: Diese Ereignisse wurden zwar teilweise durch die erneuerbaren Energien begünstigt, aber dies ist kein Plädoyer gegen diese Energieform. Im Gegenteil: Wir brauchen mehr Wind- und Solarstrom in Deutschland, um den Klimawandel zu begrenzen. Dennoch müssen wir gleichzeitig dafür sorgen, dass das Stromnetz stabil und Strom bezahlbar bleibt. In diesem Zieldreieck bewegen wir uns – und suchen nach der besten Lösung für alle.“

Herr Vanzetta, vielen Dank für das Interview!