„Wie sieht ein sicheres und kosteneffizientes, klimaneutrales Energiesystem aus? Wie können wir die Entwicklung dieses Systems in einem Infrastrukturplan abbilden? Wie kann das Strommarktdesign darauf ausgerichtet werden?“
Mit dieser Fragestellung stimmte Amprion-CEO Hans-Jürgen Brick die 291 Teilnehmer des Amprion-Webinars „Neue Impulse zum zukünftigen Strommarktsystem“ am 30. März ein.
Lokale Preissignale für ein stabiles System
Zum Auftakt stellte Dr. Matthias Stark vom Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) die Studie „Neues Strommarktsystem zur Integration fluktuierender erneuerbarer Energien“ vor. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie die richtigen Signale im Markt gesetzt werden können, um den notwendigen Ausbau der Erneuerbaren zu fördern. Darüber hinaus, so betonte Stark, müssten die erneuerbaren Energien in Zukunft auch Systemdienstleistungen für den Netzbetrieb liefern können. „Das ist die Voraussetzung für den Ausstieg aus der fossilen Erzeugung.“ Das vom BEE entwickelte Modell orientiert sich am bestehenden Strommarkt und dort vor allem auf die Realisierung ausreichender Flexibilitäten für die Marktstabilisierung – ein komplett neues System wäre zwar durchaus denkbar doch aufgrund des dafür benötigten Umsetzungszeitraums zu spät für die aktuelle Situation. Das aktuelle Marktdesign müsse jedoch angepasst werden, weil es beispielsweise derzeit bei hoher Einspeisung von Erneuerbaren negative Preise gebe. „Dauern diese über mehrere Stunden an, erhalten die Anlagen keine Förderung. Mit dem derzeitigen Marktdesign entstehen nicht genügend Flexibilitäten, so dass sich dieser Trend weiter verschärfen wird, was dem Ausbau entgegenwirkt“.
Bestehendes Marktdesign stößt an Grenzen
Prof. Dr. Karsten Neuhoff vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin stellte heraus, dass sowohl Investoren als auch Verbraucher in der Phase der Transformation geschützt werden müssten. „Wir sehen derzeit fundamentale Unsicherheiten im Investitionsrahmen und müssen diese Risiken für Investoren und Kunden reduzieren“, kommentierte er angesichts aktueller Turbulenzen im Strommarkt. Um mittelfristig auch mit weniger Gas die notwendige Flexibilität bereitzustellen, müssten lokale Preissignale etabliert werden. „Im Energiesystem der Zukunft sehen wir eine starke Elektrisierung und einen starken Ausbau der Erzeugungsleistung. Gleichzeitig werden auf Seiten des Verbrauchs sowie der Erzeugung die Flexibilitäten immer größer. Diese müssen wir nutzen – und das kann das derzeitige Strommarktsystem nicht leisten“, so Neuhoff. Mit Blick auf Investoren befürwortete er die Einführung von Differenzverträgen als langfristigen Hedge zur Absicherung der Erlöse von Erzeugungsanlagen. Liegt der Börsenpreis unter dem vertraglich vereinbarten Betrag, stockt der Staat die Erlöse auf. Liegt er darüber, erhält der Staat den Überschuss. „Wenn statt der bisherigen einseitigen Marktprämie Differenzverträge ausgeschrieben worden wären, dann wären alleine im letzten Dezember eine dreiviertel Milliarde Euro Rückzahlungen erfolgt, die Endkunden zugutegekommen wären“, so Neuhoff. Gleichzeitig könne Investitionssicherheit für Projektierer verbessert und so Stromgestehungskosten reduziert werden.
Bedarfe des Netzes transparent machen
Anschließend stellte Dr. Peter Lopion das von Amprion entwickelte Konzept des Systemmarkts vor. Es ergänzt das bestehende Marktmodell um Funktionen, die den technischen Bedarf des Netzbetriebs für alle Marktteilnehmer transparent aufzeigen. „So können wir zukünftig ausreichend Erzeugung an den richtigen Stellen im Netz anreizen und gleichzeitig die erforderlichen Systemdienstleistungen akquirieren“, so Lopion. Marktteilnehmer wären weiterhin dafür zuständig, den Strombedarf im Markt zu decken, könnten aber zusätzlich zur Systemsicherheit beitragen. „Es ist unsere Aufgabe, bestehende Bedarfe transparent zu machen“, betonte Thomas Dederichs, Leiter des Bereichs Energiepolitik bei Amprion. Nur dann könnten die Marktteilnehmer technologieneutral nach kosteneffizienten Lösungen suchen.
Positive Signale aus der Politik
Die energiepolitische Sprecherin der Grünen Bundestagsfraktion, Dr. Ingrid Nestle, plädierte abschließend für ein Zusammenspiel von regulatorischen und marktlichen Lösungen. Ihrer Ansicht nach eignet sich ein Strommarkt grundsätzlich gut dafür, die zukünftig dringend benötigten Flexibilitäten zu heben. Damit der Umbau des Energiesystems gelingt, müssten zudem Investitionsentscheidungen unabhängig von der Entwicklung der Strompreise getroffen werden können. "Wir sehen gerade, dass der langfristige Strompreis sehr stark von politischen Entscheidungen abhängt", so Nestle. "Und Situationen wie die Ukrainekrise kann niemand voraussagen." Für das zweite Halbjahr 2022 kündigte sie den Start der Plattform "Klimaneutrales Energiesystem" der Bundesregierung an. Die Grünen-Sprecherin machte deutlich, dass die Politik die Dringlichkeit des Themas erkannt habe - und bereit sei, sich noch intensiver damit auseinanderzusetzen.