Welche Infrastruktur benötigt das Energiesystem der Zukunft? Vertreter der Industrie, Kraftwerks- sowie Netzbetreiber tauschten sich auf Einladung von Amprion am 8. September dazu aus.
Wie umfassend der Wandel unseres Energiesystems ist, machte Dr. Hans-Jürgen Brick gleich zu Beginn des Amprion-Kundentags 2021 deutlich. „Es bleibt kaum ein Stein auf dem anderen“, sagte der Vorsitzende der Amprion-Geschäftsführung. Mehr als 500 Projekte zum Aus- und Umbau des Übertragungsnetzes hat Amprion allein in seinem Netzgebiet angestoßen. Wesentlicher Treiber dieser Veränderungen ist der Klimaschutz. „Die kommenden zehn Jahre sind dafür entscheidend. Daher müssen wir jetzt den Turbo zünden“, sagte Brick vor rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die Referenten des Amprion-Kundentags sowie ein Teil der Gäste waren in Düsseldorf zusammengekommen, weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich per Live-Stream zugeschaltet.
Versorgungssicherheit – bleibt wichtiges Thema für die Netzkunden
Sie alle betrifft die derzeitige Transformation des Stromsektors. Die Netzbetreiber stehen vor der Herausforderung, den Aus- und Umbau ihrer Netze zu realisieren, ohne dass die Versorgungssicherheit darunter leidet. Zudem müssen sie die Kosten im Blick behalten, die im Zuge der Energiewende entstehen. Die Netzkunden von Amprion – insbesondere Industrieunternehmen mit hohem Strombedarf – bereiten sich ihrerseits auf eine klimaneutrale Produktion vor und wollen gleichzeitig sichergestellt wissen, dass sie jederzeit ausreichend mit Energie versorgt werden. „Das bleibt ein wichtiges Thema für unsere Kunden“, sagt Stephan Morgenschweis, Leiter des Customer Managements von Amprion und Organisator des Kundentags. „Sie erwarten von uns auch zukünftig sicheren Strom für ihre Prozesse.“
Tatsächlich müssen die Netzbetreiber immer größere Anstrengungen unternehmen, um die Versorgungssicherheit auf dem gewohnten Niveau zu halten. Das hob der technische Geschäftsführer von Amprion, Dr. Hendrik Neumann, hervor. Das liegt zum einen daran, dass immer mehr gesicherte Leistung aus Großkraftwerken entfällt und stattdessen Anlagen zugebaut werden, die wetterabhängig Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugen. Außerdem ist es Aufgabe der Netzbetreiber, die Leistung aus erneuerbaren Energiequellen dorthin zu transportieren, wo sie gebraucht wird. Das heißt für Amprion, den Netzausbau weiter voranzutreiben und Leitungen zu bauen, die beispielsweise den in der Nordsee erzeugten Windstrom in die Verbrauchszentren im Westen und in der Mitte Deutschlands bringen.
Mehr innovative Maßnahmen, mehr Infrastruktur
Nicht zuletzt leisten konventionelle Kraftwerke aber auch einen wichtigen Beitrag zur Systemstabilität. Wenn sie wegfallen, benötigt Amprion an vielen Stellen im Netz sogenannte Blindleistungskompensationsanlagen wie Statcoms, MSCDN-Anlagen und rotierende Phasenschieber. Sie sind notwendig, um die Spannung im Stromnetz stabil zu halten. Die entsprechenden Projekte hat Amprion angestoßen. „Doch wenn die Nachfrage nach elektrischer Energie im Zuge der Dekarbonisierung und Digitalisierung weiter steigt und die gesicherte Leistung weiter zurückgeht, brauchen wir noch sehr viel mehr innovative Maßnahmen und Netzinfrastruktur“, schloss Neumann.
Wie genau diese Netzinfrastruktur der Zukunft aussehen wird – davon machen sich selbst Experten noch kein klares Bild. Eines jedoch steht für Dr. Martin Scheufen, der mit seinem Team für Amprion Analysen des zukünftigen Energiesystems erstellt, außer Frage: Der Netzausbau wird noch lange nicht beendet sein. Da sich die Klimaziele in Deutschland und Europa weiterhin rasant verändern, benötige man noch deutlich mehr Leitungen und Anlagen als bisher geplant. Im Zuge der Dekarbonisierung, erläuterte Scheufen, stiegen die Anfragen seitens der Industrie nach mehr elektrischer Leistung bereits jetzt massiv an. Habe man den Netzausbaubedarf über die letzten zehn Jahre stets konstant nach oben korrigiert, zeichne sich nun eine geradezu sprunghafte Entwicklung ab. „Wir pfeifen noch einmal ein komplett anderes Spiel an“, prognostizierte der Systementwickler.
Die nächste Stufe der Netzentwicklung
Vor diesem Hintergrund wirkten die grundlegenden Fragestellungen, die Professor Dr. Albert Moser aufwarf, umso dringlicher. Wo kommt Energie her, wie wollen wir sie verwenden? Welche Technologien setzen wir ein? Was benötigt die Industrie? Der Inhaber des Lehrstuhls für Übertragungsnetze und Energiewirtschaft an der RWTH Aachen plädierte dafür, bei der Suche nach Antworten langfristig zu denken – statt weiterhin „auf Sicht zu fahren“ und nur die nächsten Maßnahmen zu planen. „Wir müssen die nächste Stufe der Netzentwicklung ins Visier nehmen“, forderte Moser. Dazu gehört für ihn nicht weniger als eine sektorenübergreifende Betrachtung des Energiesystems, eine koordinierte Planung für Strom und grünes Gas sowie der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur.
Am Ende der Veranstaltung waren viele Herausforderungen benannt, die es auf dem Weg zu einem klimaneutralen Energiesystem zu meistern gilt. „Als Übertragungsnetzbetreiber können wir nicht alleine für eine stabile Stromversorgung in Deutschland und Europa sorgen“, sagte Amprion-CEO Dr. Hans-Jürgen Brick, „doch wir werden unseren Beitrag dazu leisten – denn das hohe Niveau der Versorgungssicherheit ist für Industriekunden und den Industriestandort Deutschland essenziell.“