Das Bild zeigt Herrn Dr. Kleinekorte im Gespräch mit Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt.

Experten im Gespräch

Europa: Energiewende mit Strom und Gas

Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, stellvertretender Generaldirektor der Generaldirektion Energie der EU-Kommission, und Amprion-Geschäftsführer Dr. Klaus Kleinekorte über Fortschritte auf dem Weg zu einer CO2-armen Wirtschaft und die Chancen der Sektorenkopplung.

Um den Klimawandel aufzuhalten, setzt Europa bei der Stromproduktion auf erneuerbare Energien. Wird die Energiewende gelingen?

Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt: Im Dezember 2018 haben sich Europäische Kommission, Rat und Parlament auf neue Vorschriften zum EU-Strommarkt geeinigt. Mit diesem Paket „Saubere Energie für alle Europäer“ kommen wir einen gewaltigen Schritt in Richtung europäische Energiewende voran. Es mag pathetisch klingen, aber: Die Welt schaut auf Europa – wie wir es schaffen, bis 2050 schrittweise zu einer CO2-armen Wirtschaft zu kommen. Und: Wir können es schaffen!

Dr. Klaus Kleinekorte: Es geht darum, die Energie aus Wind und Sonne, die wetterbedingt stark schwankend zur Verfügung steht, in wachsendem Maße in das Energiesystem, aber auch in den Strommarkt zu integrieren. Damit schlägt Europa das nächste Kapitel der Energiewende auf. Wir alle wollen unsere Wirtschaften dekarbonisieren, also bei der Energieerzeugung weniger Kohlendioxid freisetzen – dafür muss die Politik auf europäischer Ebene Anreize schaffen. Das kann kein Staat allein, dafür brauchen wir die große Gemeinschaft. Etwa wenn wir den Stromverbrauch europaweit flexibler gestalten wollen, um ihn an die schwankende Einspeisung erneuerbarer Energien anzupassen.

Borchardt: Das sehe ich auch so. Wir können den Umbau des Energiesystems nicht mehr national regeln. Ich bin davon überzeugt: Wir brauchen einen integrierten Strommarkt in Europa. Er funktioniert nur mit einem integrierten Stromnetz, dessen Leitungen mehr Strom als heute über nationale Grenzen hinweg übertragen. Solche grenzüberschreitenden Leitungen – Experten sprechen von Interkonnektoren – haben beim Netzausbau Priorität, denn sie erleichtern den euro­päischen Stromhandel. Er wird uns helfen, Schwankungen in der Stromproduktion besser auszugleichen, die sich durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien ergeben.

Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt, stellvertretender Generaldirektor der Generaldirektion Energie der EU-Kommission

»Die Welt schaut auf Europa – wie wir es schaffen, bis 2050 zu einer CO2-armen Wirtschaft zu kommen.«

Prof. Dr. Klaus-Dieter Borchardt

In der Diskussion um die Reform des EU-Strommarkts gab es beim Thema Interkonnektoren Spannungen zwischen der EU-Kommission und den deutschen Übertragungsnetzbetreibern.

Borchardt: Die strittige Frage war: Wie viel Interkonnektor-Kapazitäten stellen die Übertragungsnetzbetreiber für den grenz­überschreitenden Stromhandel zur Verfügung? Je mehr Handel wir ermöglichen, desto besser. Ich sehe da noch viel Luft nach oben – Kommission, Parlament und Rat ebenso: Sie haben entschieden, dazu ab 2025 klare gesetzliche Vorgaben zu machen.

Kleinekorte: Das Problem dabei ist: Man hält für den Stromhandel Interkonnektor-Kapazitäten selbst dann offen, wenn das Übertragungsnetz die entsprechenden Kapazitäten aus physikalischen Gründen eigentlich gar nicht zur Verfügung stellen kann. Es handelt sich somit um eine virtuelle Kapazität, die nur durch massiven Redispatch gewährleistet werden kann. Die Aufwendungen würden uns und damit die deutschen Stromkunden viel Geld kosten.

Borchardt: Künftig gilt in Europa der Grundsatz: Wer Probleme für den grenzüberschreitenden Stromhandel schafft, muss auch für die Kosten aufkommen, die die Beseitigung erfordert. Zugegeben: Es würde die Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland – Stand heute – eine Stange Geld kosten, die Verpflichtungen zu übernehmen, die jetzt im Raum stehen. Aber damit schaffen wir Anreize, den Netzausbau in den nächsten Jahren zügig voranzubringen und so Netzengpässe zu beseitigen. Das ist dringend nötig. Wenn ich heute nach Deutschland gucke, wird mir schwindelig. Der schleppende Netzausbau in Deutschland ist ein riesiges Problem für Europa, weil Deutschland ein großes Transitland für Stromflüsse ist. Da muss etwas passieren – und da passiert jetzt auch etwas. Wenn Sie in Deutschland bis 2025 das Übertragungsnetz wie geplant ausbauen, haben Sie die entscheidenden Kostenblöcke im Griff. Ich glaube daher, dass sowohl die Politik als auch die Übertragungsnetzbetreiber mit den neuen Vorschriften gut leben können.

Dr. Klaus Kleinekorte, Technischer Geschäftsführer der Amprion GmbH

»Durch Power-to-Gas bekommen wir die erneuerbaren Energien auch in andere Sektoren hinein.«

Dr. Klaus Kleinekorte

Deutschland steigt aus der Atomkraft aus, möglicherweise auch aus der Kohle. Wie wirkt sich das auf das Stromnetz aus?

Kleinekorte: In Deutschland schwindet dann gesicherte Erzeugung, also verlässlich verfügbare Energie im System. Eine ähnliche Entwicklung erwarte ich in den westlichen Nachbarländern: Belgien wird 2025 seine Kernkraftwerke abschalten, Frankreich und die Schweiz stehen vor ähnlichen Entscheidungen. Wir alle werden bei der Stromproduktion große schwarze Löcher bekommen. Dieses Szenario bereitet mir große Sorgen: Ohne genügend verlässlich verfügbare Energie im System können wir das Netz nicht stabil betreiben. Das Risiko von Störungen steigt europaweit.

Borchardt: Ich teile diese Sorgen. Das sind Herausforderungen, die wir ebenfalls sehen.

Wie könnte eine Lösung aussehen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten?

Borchardt: Ich sehe sie vor allem darin, dem europäischen Energie­system ein zweites Standbein zu geben: Wir müssen das Potenzial von Gas nutzen! Gas hat für mich eine ganz entscheidende Bedeutung als ein stabilisierender Faktor im zukünftigen europäischen Energiesystem.

Kleinekorte: Bei diesem Thema sind wir uns sehr nah. Amprion beschäftigt sich im Projekt hybridge intensiv mit der Frage, wie sich das Strom- und das Gassystem bestmöglich miteinander koppeln lassen. Als Brücke zwischen den Systemen fungieren sogenannte Power-to-Gas-Anlagen. Sie ermöglichen die Transformation von Strom in Wasserstoff. Dies auch vor dem Hin­tergrund, dass Industrie, Haushalte und Verkehr viel mehr Gas als Strom verbrauchen. Allein der Wärmesektor ist zu 56 Prozent gasbasiert. Durch die Power-to-Gas-Technologie bekommen wir die erneuerbaren Energien auch in diese Sektoren hinein. Gemeinsam mit dem Gasnetzbetreiber Open Grid Europe (OGE) will Amprion diese Technologie in industriellem Maßstab erproben.

Borchardt: Ich möchte Amprion und OGE ein großes Kompliment aussprechen, in diese Richtung nicht nur zu denken, sondern auch voranzugehen. Dabei haben Sie meine volle Unterstützung! Die europäische Energiewende wird ohne den Ausbau des Standbeins Gas nicht gelingen. Deshalb bereitet die EU-Kommission nach der Reform des Strommarkts nun eine Reform des Gasmarkts vor. Die Sektorenkopplung, wie Sie sie gerade beschrieben haben, wird dabei ein zentrales Element sein.

An welches Gas denken Sie, wenn Sie von „Power-to-Gas“ sprechen?

Kleinekorte: Wir denken „Gas“ nicht nur als künstliches Methangas, sondern vordringlich als Wasserstoff – und können uns vorstellen, diesen dann etwa für Brennstoffzellen in Autos, Bussen und Zügen nutzbar zu machen.

Borchardt: An Wasserstoff scheiden sich noch immer die Geister. Wie stark lässt es sich dem herkömmlichen Gas in bestehenden Leitungen beimischen? Oder müssen wir dafür neue Pipelines bauen? Daran forschen wir gerade.

Kleinekorte: Ich glaube nicht, dass wir eine komplett neue Infrastruktur für Wasserstoff benötigen. Wir sollten versuchen, das be­stehende Gasnetz zu verwenden. Die Chancen dafür stehen gut: Die Maßnahmen zur Wärmedämmung in Deutschland sorgen dafür, dass der Bedarf an Gas zum Heizen kontinuierlich sinkt. Das schafft freie Gasleitungen. Im Rahmen unseres Pilotprojekts wird ein Teil des bestehenden Gasnetzes der OGE für den ausschließlichen Transport von Wasserstoff umgebaut. In dieses Wasserstoffnetz wird der elektrolytisch gewonnene Wasserstoff eingespeist. Ein weiterer Teil des Wasserstoffs wird dem Erdgas in geringen Anteilen zugemischt.

Wie groß ist das Potenzial von Power-to-Gas?

Kleinekorte: Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Beim geplanten Ausbau der Windparks speziell in der Nordsee bräuchte man im Zeitraum 2030 bis 2050 etwa zehn Gigawatt Sektoren­kopplungs­­­leistung, um die Volatilität der erneuerbaren Energien beherrschen zu können. Dies würde zugleich den weiteren Ausbau des Übertragungsnetzes stark reduzieren. Ich kann mir vorstellen, dass dabei nicht nur große Anlagen in den Übertragungsnetzen, sondern auch kleinere Power-to-Gas-Einheiten in den Verteilnetzen helfen, an die ja auch Windparks angeschlossen sind. In diesen dezentralen Einheiten könnte man etwa Wasserstoff für Brennstoffzellen-Autos in der Region herstellen. Das müsste man mal im Ganzen systemisch denken.

Borchardt: Ein solch zweigleisiges System aus Strom und Gas wäre auch robuster als eines, das nur auf Strom und digitale Steuerung setzt. Es wäre weniger anfällig gegenüber Cyber-Angriffen. Und seien wir ehrlich: Eine vollständige Elektrifizierung auf Grundlage von erneuerbaren Energien könnten wir ohnehin nur bewerkstelligen, wenn wir eine Superbatterie erfunden hätten. Das haben wir aber nicht. Wir haben kein elektrisches Speichersystem, das uns in hinreichendem Maße dabei hilft, mit der schwankenden Einspeisung von Windkraft und Solarenergie klarzukommen. Das kann nur das Gassystem leisten. Meine Vision: Wir werden 2050 eine Wirtschaft haben, die stärker als heute elektrifiziert ist, aber auch das gigantische Potenzial von Power-to-Gas nutzt.


Interview: Volker Göttsche Fotos: Hartmut Nägele